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Wir hätten es auch sein können

Trauer um die Opfer beim Boston-Marathon – aus der Sicht eines „Hobby-Läufers“

Es ist mal eben zehn Tage her seit ich durch Berlin gelaufen bin. 25.000 Läuferinnen und Läufer aus aller Welt beim Halbmarathon in der Hauptstadt. Ich habe gelesen, dass da Menschen aus mehr als 100 Nationen unterwegs waren. Das ist überwältigend. Denn bis auf ein paar „Extremsportler“ ganz an der Spitze des Läuferfeldes geht es den anderen Mitmenschen aus über 100 Ländern eigentlich nicht im eigentlichen Sinne ums „Gewinnen“. Wenn es einen gibt, den man besiegen will, dann höchstens sich selbst.
Und alle, die wir bei Stadtmarathons unterwegs waren, egal ob zehnmal oder 30mal, durch Köln, durch Hamburg, durch Duisburg, durch Hannover oder Bonn, durch Mailand, durch Athen oder durch Boston – und überall da sind Läufer aus Suderwich gelaufen. Überall war es dasselbe: Es ist wunderbar, wenn die Dänen (vor allem in Berlin!), die Spanier, die Franzosen, die Schweizer oder einige Mitläufer aus exotischen Ländern von ihren jeweiligen Freunden und Angehörigen angefeuert werden. Viele Sprachen sind zu hören. Und alle laufen miteinander.
Ich habe noch nie erlebt, dass irgendjemand unterwegs mich mit „Sie“ ansprach oder dass mich jemand nach meinem Beruf gefragt hätte. Der gemeinsame Lauf macht die sozialen Unterschiede unsichtbar; wir sind alle gleich und stehen vor derselben Aufgabe. Da ist niemand mehr Dax-Vorstand oder Krankenschwester, Computerfachmann oder Hausmeister, Politiker oder Fliesenleger. Da gibt es nur noch den Läufer neben Dir. Und er fragt Dich – nachdem er schon 4 bis 5 Kilometer neben dir gelaufen ist: „Was willst Du denn laufen? Sollen wir zusammen bleiben.“ Und dann entsteht eine Gemeinschaft auf Zeit – bis zum Ziel. Dann ein Dank für die hilfreiche Weggemeinschaft im gleichen Tempo, ein kurzer Gruß und guter Wunsch auf dem Weg.
Jeder hat Achtung vor der Läuferin und dem Läufer neben sich. Wir wissen alle, was es heißt, sich auf einen Halbmarathon oder gar auf einen Marathon vorzubereiten. 25.000 Gleichgesinnte unterschiedlicher Herkunft, Männer und Frauen, aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten – und an der Strecke unsere Familien und unsere Freunde. Sie haben manche Stunde auf uns verzichtet – und doch stehen sie hier: aus Verbundenheit, aus Nähe, aus Liebe!
So kommen bei jedem großen Stadtmarathon Hunderttausende von Menschen zu einem besonderen Fest zusammen, das es so sonst kaum gibt. Die Spielregeln heißen: gegenseitige Achtung und Anerkennung, Fairness und Respekt, Freude und Vielfalt, Miteinander und Frieden. Es ist eben mal zehn Tage her, dass ich durch Berlin gelaufen bin. Und dann die Bomben beim Boston-Marathon. Entsetzlich. 23.000 Teilnehmer und 500.000 Zuschauer. Menschen aus aller Welt!
Erst heute habe ich realisiert, dass die Bomben uns alle hätten treffen können. Sie explodierten zwei Stunden nachdem die Spitze im Ziel war. Dieser Satz hat mich getroffen: „Der Zeitpunkt war möglicherweise gewählt worden, um eine möglichst hohe Opferzahl zu erzielen, denn es kamen gerade besonders viele Hobbyläufer ins Ziel.“ (Die WELT, kompakt, Seite 1)
Ja, ich hätte dabei sein können – als zufälliges Opfer. Es hätte uns Hobbyläufer getroffen – und unsere Lieben, die dort im Ziel immer auf uns warten. So wie der 8jährige Martin Richard, der auf seinen Vater gewartet hat, und starb. Seine Schwester und seine Mutter wurden ebenfalls schwer verletzt.
Wir trauern mit der Familie Richard und mit allen, die an diesem Tag Opfer sinnloser, aber gezielter Gewalt wurden. Und diese Gewalt richtete sich auf friedliche, vitale und faire Menschen aus der ganzen Welt. Meine Gedanken und meine Gebete begleiten die Opfer von Boston.
Ich glaube, wir trauern wirklich mit Ihnen, weil wir uns hineindenken und hineinfühlen können, ganz konkret. Und wir spüren, wie unglaublich furchtbar diese Tat ist. Sinnlose Gewalt gegen unbekannte und friedliebende Menschen, die das tun, was diese Welt sonst nicht schafft: Sie sind zusammen unterwegs, ohne sich gegenseitig zu benachteiligen.
Wir trauern und sind sprachlos, weil aus diesen beiden Explosionen so viel Sinnlosigkeit und so viel Menschenverachtung spricht. Man kann es nicht fassen.
Viele von uns laufen schon lange, einige seit Jahrzehnten. Aber erst jetzt wird mir deutlich, dass im Laufen nicht nur der individuelle und persönliche Gewinn zu finden ist (Gesundheit, innerer Ausgleich, manchmal Meditation). Es geht noch um mehr: es geht auch um ein anderes Miteinander.

„Laufen bringt Menschen zusammen. Was aber gerade in Boston passiert ist, ist schrecklich. Meine Gedanken sind bei jedem Einzelnen.“ (Haile Gebrselassie) …. und schon wird über die Marathons in London und Hamburg und über die Risiken diskutiert. Natürlich muss jede und jeder selbst entscheiden. Aber heute denke ich: Wir sollten laufen! …wie immer: friedlich, ehrlich und voller Respekt gegenüber meinen Mitmenschen. Ich glaube, ich muss wieder mehr trainieren.

Peter Burkowski, Berlin, 17. April 2013

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